Tanz­ver­bot im Aar­gau — eine Tra­gi­ko­mö­die in fünf Akten

Pro­log

introDer Aar­gau tut sich unglaub­lich schwer mit gewis­sen Din­gen, so zum Bei­spiel mit der Abschaf­fung des Tanz­ver­bo­tes, wel­ches es — wie alle immer gesagt haben — gar nicht mehr gibt. Es ging eigent­lich nur um die Nor­ma­li­sie­rung der Öff­nungs­zei­ten von Gas­tro- und Tanz­be­trie­ben an soge­nannt hohen reli­giö­sen Fei­er­ta­gen. Die Leu­te könn­ten genau an jenen Wochen­en­den wie Pfings­ten zwei Stun­den län­ger sit­zen oder tan­zen, an denen sie ver­dien­ter­mas­sen frei haben. Das ist eine Baga­tel­le, möch­te man mei­nen. Nicht für den Aargau.

Die­ser Kan­ton insze­niert dazu ein wahr­haf­tes Büh­nen­spek­ta­kel. Eine Initia­ti­ve wird lan­ciert. Par­tei­en machen Vor­stös­se dazu im Gross­rat. Die Gegen­par­tei ver­hin­dert den Vor­stoss, weil sie dem poli­ti­schen Geg­ner ein Bein stel­len will, und bringt ihrer­seits einen Gegen­vor­schlag. Abge­se­hen von Nuan­cen ver­fol­gen fast alle das­sel­be Ziel. Nur Tritt­brett­fah­rer aus christ­li­chen Par­tei­en nut­zen die Initia­ti­ve, um eine Wer­te­dis­kus­si­on zu entfachen.

Begin­nen wir von vorne.

Akt 1: Eine Par­tei initiert

initiertDie Pira­ten­par­tei Aar­gau lan­ciert die Initia­ti­ve “Weg mit dem Tanz­ver­bot”. Gewiss ver­spricht die Bezeich­nung der Initia­ti­ve mehr, als sie eigent­lich errei­chen will. Tat­säch­lich ist der Zank­ap­fel aber ein Über­bleib­sel des ehe­ma­li­gen Tanz­ver­bo­tes. Die Ini­ta­ti­ve will den Para­graf 4 Absatz 3 des Gast­ge­wer­be­ge­set­zes strei­chen. Das wird im Initia­tiv-Text klipp und klar gesagt. Die­ser Para­graf lautet:

An Kar­frei­tag, Oster­sonn­tag, Pfingst­sonn­tag, am Eid­ge­nös­si­schen Dank‑, Buss- und Bet­tag, am Weih­nachts­tag sowie am jeweils dar­auf fol­gen­den Tag sind die Gast­wirt­schafts­be­trie­be um 00.15 Uhr zu schliessen.”

Eine Annah­me der Initia­ti­ve hät­te zur Fol­ge, dass die­ser Para­graf gestri­chen wird und die Gas­tro-Öff­nungs­zei­ten an die­sen 10 (5 x 2) Tagen nor­ma­li­siert wer­den, wie es in den Kan­to­nen Basel, Bern und Zürich schon lan­ge der Fall ist. Das ist nichts Welt­be­we­gen­des, eine simp­le Kor­rek­tur, eine Anpas­sung an die Moder­ne, eine klei­ne Erleich­te­rung für die Gesell­schaft. Die Initi­an­ten begin­nen die 3’000 erfor­der­li­chen Unter­schrif­ten zu samm­len und müs­sen jedem Unter­schrifts­wil­li­gen erklä­ren, wor­auf die Initia­ti­ve wirk­lich abzielt. Unse­re Stimm­bür­ger und Stimm­bür­ge­rin­nen sind kri­tisch und geben kei­ne Unter­schrift, ohne genau zu wis­sen, was sie unter­schrei­ben. Spä­ter wür­de im Gross­rat behaup­tet, die Initi­an­ten hät­ten die Unter­schrei­ben­den in die Irre geführt, ja sogar besto­chen. Die­ser an den Haa­ren her­bei­ge­zo­ge­ne Vor­wurf unster­streicht, dass gewis­sen Poli­ti­kern der Kon­takt zum Volk und das Ver­trau­en in das­sel­bi­ge schon lan­ge abhan­den gekom­men ist. Die Über­zeu­gungs­ar­beit, wel­che die Initi­an­ten der­weil auf der Stras­se leis­ten, ist gross. Doch die Unter­schrif­ten­sam­mel-Akti­on kommt zu einem jähen Ende, denn jetzt betritt der Gross­rat die Büh­ne. Vor­hang auf für unser kan­to­na­les Parlament!

Akt 2: Der Gross­rat sitzt

sitztDie JUSO bringt einen mit der Initia­ti­ve fast deckungs­glei­chen Vor­stoss in den Gros­sen Rat des Kan­tons Aar­gau. Drei Mona­te nimmt sich der Gross­rat Zeit, um die­sen Vor­stoss zu behan­deln. Die Initi­an­ten pau­sie­ren die Unter­schrif­ten­sam­mel-Akti­on in die­ser Zeit­span­ne. Sie haben ein Jahr Zeit, 3’000 Unter­schrif­ten zu sam­meln. Drei Mona­te davon soll­ten sie nun ver­lie­ren. Sie hof­fen natür­lich auf eine Annah­me der Moti­on und wol­len sich unnö­ti­ge Arbeit erspa­ren. Nach drei Mona­ten wird die Moti­on der JUSO abge­lehnt, da die SVP, wel­che die Mehr­heit im Gross­rat stellt, dem poli­ti­schen Geg­ner kei­ne Geschen­ke macht. Die SVP ihrer­seits arbei­tet einen Gegen­vor­schlag aus. Sie möch­te, dass ver­län­ger­te Öff­nungs­zei­ten an hohen reli­giö­sen Fei­er­ta­gen von den ein­zel­nen Gemein­den bewil­ligt wer­den. Die christ­li­che Frak­ti­on beginnt in der Zwi­schen­zeit, aus die­ser simp­len Fra­ge eine Wer­te­dis­kus­si­on um die “24-Stun­den-Spass­ge­sell­schaft” und um die Ent­schleu­ni­gung der Gesell­schaft zu ent­fa­chen. Sie for­dern Respekt vor kirch­li­chen Fei­er­ta­gen. Was dies mit dem eigent­li­chen Anlie­gen zu tun hat, wer­den sie nie rich­tig erklä­ren kön­nen. Wahr­schein­lich ist es ein­fach das Lamen­to einer dünn­häu­ti­gen Frak­ti­on, wel­che in den letz­ten Jahr­zehn­ten kon­stant ver­lo­ren hat. Die Kir­che hat Mit­glie­der ver­lo­ren, die CVP befin­det sich im ste­ten Nie­der­gang, die EVP und die EDU fris­ten ein Schat­ten­da­sein. Die­se hei­li­gen Krie­ger ste­hen nun gemein­sam auf, um gegen die — unver­meid­li­che — Ent­chris­tia­ni­sie­rung der Gesell­schaft anzu­tre­ten, und das aus­ge­rech­net bei einem Anlie­gen, wel­ches häu­fig als Baga­tel­le abge­tan wur­de. Jetzt aber geht es plötz­lich um die Kul­tur des Abend­lan­des! Da stau­nen auch die Initi­an­ten, die ursprüng­lich nur ein klei­nes Ärger­nis besei­ti­gen woll­ten, nicht schlecht. Nach­dem der Vor­stoss der JUSO abge­lehnt wur­de, sam­meln die Initi­an­ten wei­ter und rei­chen nach einem Jahr unge­fähr 3’800 Unter­schrif­ten ein. Davon sind 3’279 gül­tig und die Initia­ti­ve ist gül­tig zustan­de gekom­men. Der Regie­rungs­rat hat nun zwei — ZWEI — Jah­re Zeit, um die­se Initia­ti­ve zu behan­deln und gege­be­nen­falls einen Gegen­vor­schlag aus­zu­ar­bei­ten. Doch auch unser Regie­rungs­rat ist gut für Über­ra­schun­gen. Vor­hang auf!

Akt 3: Der Regie­rungs­rat denkt

thinkDer Regie­rungs­rat besorgt Staats­auf­ga­ben. Das will über­legt sein. Des­halb denkt der Regie­rungs­rat. Er denkt, er denkt Mona­te, ein hal­bes Jahr und dann denkt er, dass er kei­ne Zeit habe. Er gelangt mit der Bit­te an die Initi­an­ten, ihm mehr Zeit ein­zu­räu­men für die Aus­ar­bei­tung eines Gegen­vor­schla­ges. Wir müs­sen uns jetzt kurz wie­der ver­ge­gen­wär­ti­gen, wor­um es eigent­lich geht. Es geht um nichts, um eine Baga­tel­le, wie alle immer betont haben. Doch der Regie­rungs­rat kann die­se Mikro-Initia­ti­ve nicht in zwei Jah­ren behan­deln. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Initi­an­ten, wel­che bloss ein Jahr (minus drei Mona­te) Zeit hat­ten, um die not­wen­di­ge Anzahl Unter­schrif­ten zu sam­meln, leh­nen die Bit­te der Regie­rung ab. Dann geht alles plötz­lich sehr schnell. Den Initi­an­ten wird die Schuld für das Nicht­zu­stan­de­kom­mens eines Gegen­vor­schla­ges in die Schu­he gescho­ben. Die Abstim­mung über die Initia­ti­ve wird stan­te pede auf den nächs­ten natio­na­len Abstim­mungs­ter­min ange­setzt. Die klei­ne kan­to­na­le Initia­ti­ve muss sich neben vier schwer­ge­wich­ti­gen natio­na­len Abstim­mun­gen behaup­ten. Das Abstim­mungs­büch­lein der Regie­rung wie­der­holt auf drei Sei­ten: Die Initi­an­ten sind schuld. Ableh­nen. Auf der letz­ten Sei­te dür­fen die Ini­tan­ten weni­ge Wor­te zu Guns­ten der Initia­ti­ve ver­lie­ren. Wah­re Demo­kra­tie? Der geneig­te Leser ver­misst fer­ner eine Erklä­rung des Regie­rungs­ra­tes, war­um er inner­halb von zwei Jah­ren kei­nen Gegen­vor­schlag aus­ar­bei­ten konn­te. Die Ableh­nung durch Gross­rat und Regie­rungs­rat, die Anschul­di­gun­gen an die Adres­se der Initi­an­ten sind schlech­tes­te Vor­aus­set­zun­gen für die­se Initiative.

Akt 4: Das Volk folgt

folgt48.2 % Ja zu 51.8 % Nein. Ange­sichts der völ­lig ver­fehl­ten Wer­te­dis­kus­si­on und der Ableh­nung durch die Gre­mi­en kön­nen die Initi­an­ten trotz­dem von einem Ach­tungs­er­folg spre­chen. Ist das Dra­ma zu Ende? Nein, denn jetzt folgt der Schildbürger-Streich.

 

 

Akt 5: Der Regie­rungs­rat setzt um

setztumDer Regie­rungs­rat setzt die Moti­on der SVP um. Auch der Gross­rat wird Ja zu libe­ra­li­sier­ten Öff­nungs­zei­ten auf kom­mu­na­ler Bewil­li­gungs­ba­sis sagen. Jetzt steht ja die SVP dahin­ter. Die SVP, die SP, die Grü­nen, die FDP, die Grün­li­be­ra­len und die BDP wer­den JA sagen. Die EVP, die CVP und die EDU wer­den ein­mal mehr das Nach­se­hen haben. Viel­leicht hat dann noch jemand Lust, das Refe­ren­dum zu ergrei­fen? Es wäre eine wür­zi­ge Poin­te in die­ser aar­gaui­schen Tragikomödie.

Der Vor­hang fällt. Wir dür­fen applau­die­ren. Wirklich?

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