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Fall Rup­pers­wil: Gedan­ken und Spekulationen

Der abscheuliche Vierfach-Mord von Rupperswil ist geklärt. Wir alle schulden der Kantonspolizei Aargau unseren tiefsten Dank. Sie haben die Welt ein Stück sicher gemacht, zumal der Verdacht besteht, dass der mutmassliche Täter weitere Morde geplant hat. Das Ausmass der Brutalität und die Abgeklärtheit dieses Verbrechens hinterlässt einen tiefen Schock. Was wir unter Menschlichkeit verstehen und als selbstverständlich erachten, löst sich plötzlich auf. Zurück bleibt Fassungslosigkeit und Entsetzen. Wir müssen uns davon erholen und langsam unser Vertrauen in unsere Mitmenschen und Nachbarn wieder finden.

Dieses unfassbare Ereignis ist eine absolute Anomalie. Ein bislang unauffälliger Mann tötet kaltblütig vier Menschen. Er schneidet Ihnen die Kehle durch. Man wagt sich kaum vorzustellen, dass einige der Opfer dies noch mitansehen mussten. Zuvor erpresst er Geld und vergeht sich an einem 13jährigen Jungen. Unmöglich. Unmenschlich. Unfassbar. Räuberische Erpressung, Geiselnahme, Vergewaltigung, eventuell auch Folter und Mord sowieso sind nur einge der Kapital-Verbrechen, die der mutmassliche Täter begeht. Er erfüllt ein ganzes Delikts-Arsenal. Er missachtet die Gebote der Menschlichkeit in jeder Hinsicht. Doch kann man ihn deswegen - wie ein Boulevard-Blatt das getan hat - als Bestie bezeichnen? Eine Bestie wütet blind, instinktiv und unkontrolliert. Das scheint hier nicht zuzutreffen. Kaltblütigkeit und Kalkül, gepaart mit Perversion, Sadismus und Mordlust sprechen nicht für eine Bestie, sondern für einen menschlichen Schlächter. "Anti-Mensch" ist wohl eine treffendere, aber weniger plakative Bezeichnung.

Die psychiatrisch-psychologischen Abklärungen könnten tiefe Störungen der Persönlichkeit offenbaren: Emotionslosigkeit, Absenz von Empathie, Mitgefühl und Gewissen, eine Macht- und Kontroll-Obsession, Egozentrik, eventuell Narzissmus, Sadismus, sexuelle Perversion. Dazu kommt der unbedingte Wille, seine gestörten Bedürfnisse auszuleben und in die Tat umzusetzen. Er hat Blut geleckt. Sehr wahrscheinlich wäre er zum Wiederholungstäter geworden. Wenn es zutrifft, dass Wiederholungtäter die Brutalität und das Ausmass Ihrer Verbrechen mit jeder Tat steigern, wagt man sich kaum auszumalen, was als nächstes geschehen wäre. Das nächste Gemetzel und Blutbad wurde zum Glück durch die Verhaftung des geständigen Täters verhindert. Angemerkt sei, dass der mutmassliche Täter aus prozessrechtlicher Sicht bis zum Beweis seiner Schuld und einer letztinstanzlichen Verurteilung durch ein Gericht trotz Geständnis und erdrückender Beweislast als unschuldig zu gelten hat. In diesem Fall dürfte das eine rechtsstaatliche Floskel bleiben.

Es bleibt eine grosse Frage: Wie ist es möglich, dass der Täter bislang nicht auffiel. Er hatte eine Vermeidungs-Strategie. Trainer haben Strategien. Er mied Menschen und blieb Einzelgänger. Als Fussballtrainer und Koordinator stand seine Funktion und nicht sein Wesen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Solange er diese Funktion wahrnahm und die damit verbundenen Aufgaben erfüllte, fielen seine massiven Defizite nicht auf. Die Umgebung nahm ihn als Funktionär und nicht als Mensch wahr. Unter Freunden wären seine Störungen offensichtlich geworden. Er hätte Stimmungen nicht verstanden und nicht darauf reagieren können. Die Emotionen der anderen wären für ihn nicht lesbar, uninteressant oder sogar abstossend gewesen. Er hätte keine emotionalen Bindungen knüpfen können. Interessenbasierte Freundschaften wären hingegen nicht auszuschliessen gewesen, denn dabei wären nicht Emotionen und Wesenszüge, sondern eben Interessen vordergründig gewesen. Feststeht, dass er sich als Einzelgänger und Funktionär verstecken und so unter dem Radar durchgekommen konnte.

Das weitere Schicksal dieses Mannes liegt nun in den Händen der Gerichte. Diese werden kompetent genug sein, ein weiteres Risiko für die Gesellschaft auszuschliessen. Dieses Vertrauen dürfen wir in unsere Rechtsprechung haben.

Doch wie kamen die Ermittler dem Täter auf die Schliche? Dazu sagen die zuständigen Behörden aus ermittlungstaktischen, vielleicht auch aus politisch-rechtlichen Gründen nichts. Dies öffnet natürlich der Spekulation Tür und Tor. Da es dem besseren Verständnis und der Verarbeitung dieser ungeheuerlichen Ereignisse dient, wird auch hier nicht auf eine mögliche Erklärung und Klärung dieses Mordfalles verzichtet. Einen Anspruch auf Richtigkeit haben die nachfolgenden Ausführungen nicht. Sie basieren jedoch auf der Faktenlage und dem gesunden Menschenverstand. Wer mutmassliche Details dieses blutigen Verbrechens nicht erträgt, wird angehalten, die Lektüre an diesem Punkt zu beenden.

Zuallerst erstaunt der Umstand, dass es keine Augenzeugen gibt, die vor den sichtbaren Zeichen eines Brandes einen Flüchtigen oder Auffälligen in der Nähe des Hauses an der Lenzhardstrasse 53 in Rupperswil gesehen haben. Google Maps zeigt, dass es etwa drei bis vier Häuser gibt, die ein Blickfeld auf den Eingang jenes Hauses haben. Eine Flucht durch die angrenzenden Gärten ist nahezu ausgeschlossen. In Eile über Zäune zu klettern und fremde Grundstücke zu durchqueren, wäre für den Täter viel zu riskant gewesen. Er hätte gesehen und erkannt werden können. Er musste das Haus schnell und unauffällig verlassen, bevor der Brand die Aufmerksamkeit auf das Haus lenkte. Der Täter verliess das Haus durch die Vordertüre und die angrenzende Lenzhardstrasse. Das wirft die Frage auf, wer sich schnell fortbewegen kann, ohne dabei aufzufallen.

Die Antwort liegt auf der Hand: Ein Jogger. Circa um elf Uhr morgens verliess der Täter das Haus, in dem sich bereits ein Brand ausbreitete, joggend im Traineranzug, den Kopf wahrscheinlich mit Kapuze bedeckt, in Richtung des angrenzenden Waldstückes. Von diesem Waldstück aus hatte er im übrigen das Haus seiner Opfer vor der Tat beobachtet. Dort kannte er sich schliesslich blendend aus, da ihn seine Spaziergänge mit den Hunden regelmässig in den Wald zwischen Rupperswil und Wildegg führten.

Ein Jogger an einem verhangenen, grauen Wintertag fiel niemandem auf. Er verschwand einfach. Im Wald weit abseits des Tatortes verfolgte er die Entwicklung vom bislang ausgeschalteten Mobiltelefon aus. Er wollte wissen, ob das Haus abgebrannt ist oder die Leichen gefunden wurden. War die Polizei vor Ort? Gab es Zeugen oder Hinweise auf Mord und seine Täterschaft? Als er sich in Sicherheit wähnte, kehrte er im grossen Bogen, wahrscheinlich joggend ohne Kopfbedeckung nach Hause zurück. Seine Mutter war nicht zu Hause. Davon kann ausgegangen werden, denn ihr wäre aufgefallen, dass der Täter in anderen Kleidern zurückkehrte.

Er hatte das Haus am Morgen wahrscheinlich in normaler Strassenkleidung verlassen, in seinem Rucksack die Mord- und Fessel-Utensilien sowie Joggingkleider. Wenn er bereits wusste, dass er seine Opfer "bestialisch" abschlachten würde, brauchte er Ersatzkleidung. Denn die Morde würden nicht nur leise, sondern auch blutig sein. Das Blutbad, welches er anrichtete, musste auf seiner gesamten Kleidung und Haut sichtbare Spuren hinterlassen haben, vorausgesetzt er war während der Tat überhaupt bekleidet. Blutspritzer im Gesicht und auf der Kleidung wären jedem Passanten sofort aufgefallen. Gewiss trug er Handschuhe. Es war schliesslich Winter. So würde er nicht auffallen und auch keine Fingerabdrücke hinterlassen. Er zog er die Tatkleider aus, legte diese zu den Leichen und übergoss alles mit Brandbeschleuniger. Dann zog er die Jogging-Kleider und Jogging-Schuhe an, packte minutiös, legte Feuer und verliess das Haus unmittelbar danach joggend in Richtung des angrenzenden Waldes.

Er hatte Glück. Weder hatte ihn jemand gesehen noch war er jemandem aufgefallen. Darüber musste er aber zuerst Gewissheit erlangen. Sein Mobiltelefon trug er deshalb während der Tat sich auf sich. Nur war dieses ausgeschaltet, denn eine Sichtung der Verbindungsdaten hätte viel früher zum Täter geführt. Er musste sich schliesslich etwa ein bis zwei Stunden im Haus seiner Opfer aufgehalten haben. Der längere stätionäre Aufenthalt eines unbekannten Mobiltelefones dürfte aus den Verbindungsdaten klar ersichtlich und triangulierbar sein. Der Täter war sich dessen bewusst. Doch das Mobiltelefon war in ausgeschaltetem Zustand dabei. Denn es sollte ihm nach der Tat helfen, eine Entscheidung zu treffen: Selbstmord, Flucht oder Rückkehr. Alles deutet darauf hin, dass der Täter nichts dem Zufall überliess und alles bis in kleinste Detail geplant hatte und auch jede Eventualiät berücksichtigte. Wieso sollte er also nach der Tat auf hilfreiche Informationen und Neuigkeiten aus dem Internet verzichten?

Dass Handy-Ortung und die Analyse von Verbindungsdaten die Polizei zum Täter führte ist also eher unwahrscheinlich. Die entscheidenden Hinweise kamen wahrscheinlich von Profilern, die den Täterkreis entscheidend eingrenzen konnten und Hinweise auf ein lokale Täterschaft gaben. Nur war der infrage kommende Täterkreis bei einer Eingrenzung auf Männer zwischen 15 und 35 Jahren, welche wohnhaft und ortskundig in Rupperswil sind, sehr gross. Bei einer Einwohnerzahl von 5'200 Rupperswilern dürften etwa 300 bis 500 junge Männer in den Fokus der Ermittlungen gelangt sein. Es ist wahrscheinlich, dass aufgrund fehlender Beweise, Indizien und Zeugen jeder einzelne dieser jungen Männer akribisch durchleuchtet wurde. In einem Auscheidungsverfahren grenzte die Sonderkommission den Täterkreis weiter ein, bis nur noch wenige mögliche Täter übrig blieben. Diese wurden beschattet und observiert. Auch eine komplette Überwachung der Telekommunikation der Verdächtigen wäre naheliegend. Als sich die Hinweise auf zwei bis drei Männer verdichtete, schlug die Polizei zu. Deshalb kam es zu mehreren Zugriffen und Hausdurchsuchungen. Die Polizei hatte noch keine Gewissheit und wagte den Schuss ins Blaue. Es ist wahrscheinlich, dass bis zum Geständnis des Täters noch von mehreren Tätern ausgegangen wurde. Der Erfolg gibt der Polizei recht. Sie hat vieles richtig gemacht und mutige Entscheidungen getroffen. Auch wenn grenzwertige Ermittlungsmethoden zum Einsatz gekommen wären, müssen wir das in diesem Fall wohl oder übel in Kauf nehmen. Der Erfolg rechtfertigt in diesem Fall die Mittel.

Unwahrscheinlich ist, dass aufgrund der DNA ein Phantombild erstellt wurde. Dies ist Zukunftsmusik. Die Ermittler streuten dieses Gerücht möglicherweise bewusst, um den Täter aufzuschrecken. Das Aussehen eines Menschen wird wesentlich durch Lebenstil, Ernährung, Sport, Krankheiten, Unfälle und weitere äussere Einflüsse mitbestimmt. Eine Phantom-Zeichnung, die lediglich auf die DNA abstellt, kann dem wirklichen Aussehen des DNA-Trägers nur in seltenen Fällen entsprechen, sofern der Stand der Technik überhaupt soweit ist. Sogar eineiige Zwillinge entfernen sich im Alterungsprozess visuell voneinander. Wissenschaftsgläubige sind diesbezüglich freilich einer anderen Meinung.

Wir können zu Recht von einem Erfolg sprechen. Eine abscheuliche Tat wurde aufgeklärt und weitere Abscheulichkeiten womöglich verhindert. Neben der Erleichterung bleibt aber auch das mulmige Gefühl zurück, dass das absolut Böse unter uns weilt und wir es weder wahrnehmen noch verhindern können. Damit müssen wir leben. Im Umkehrschluss können wir aber auch aufatmen, denn der grösste Teil unserer Bekannten, Nachbarn und Mitarbeiter ist trotz allem menschlich und zu solchen Taten nicht fähig.

Ich spreche allen Betroffenen dieses Verbrechens mein Beileid aus. Darin schliesse ich die Verwandschaft des Täters ein.