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Die Schweiz im geis­ti­gen Réduit — Euro­pa, Islam, Satan

Wer Europa sagt, tut sich schwer mit diesem Begriff, besonders in der Schweiz. Ob damit die EU als supranationale Institution, Europa als geographische Region oder der Schengenraum als Handels-und Rechts-Zone gemeint ist, bleibt meistens im Dunkeln. Europa ist für viele Schweizer etwas Dunkles, Böses, eigentlich der moderne Satan. Europa - so der gefühlte Bauch-Konsens - stehle uns unsere Identität, unsere Demokratie, unseren Wohlstand, unsere Jobs, unsere Berge, unsere Häuser und unsere Luft, also eigentlich alles. Damit nicht genug: Europa überflute uns zudem mit Sozialhilfe-Empfängern, die uns auf der Tasche liegen und unsere Kultur (des Abendlandes) zerstören. Da beginnt auch schon der Kulturkampf 2.0, und zwar gegen den Islam. Den ersten Kulturkampf haben wir gegen die katholische Kirche geführt, was gerne vergessen wird oder nie gelernt wurde. Als uns der Papst 1870 seine Unfehlbarkeit aufdrücken wollte, haben die Schweizer sich gegen die katholische Kirche aufgebäumt. Unfehlbar in unserer jungen Demokratie konnte schliesslich nur der Souverän sein. Wenn heute christlich-konservative Politiker die «Kultur des Abendlandes» beschwören, handelt es sich also genau um jene christlich-katholische Kultur, der wir einmal eine Abfuhr erteilt haben.

An religiösen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen Fronten stellen Schweizer ihre Wehrhaftigkeit unter Beweis. Veränderungen unserer kleinen Welt sind hier ebenso wenig willkommen, wie jene, welche diese personifizieren. Eine Frau, die seit Ewigkeiten in der Schweiz wohnt und keine Kirchen- und Kuhglocken mag, wird nicht eingebürgert. Im Tessin gilt neu das Burka-Verbot. Im Baselbiet werden muslimische Schüler mit staatlichem Zwang zum Handschlag mit der Lehrerin ermuntert. Per Volksinitiative haben wir den Bau von Minaretten untersagt. Ein IS-Sympathisant soll ausgebürgert und die Schweizer Staatsbürgerschaft also an Bedingungen geknüpft werden - ein Novum. Die nächste Forderung nach Einführung der Todesstrafe wird früher oder später wieder vorgebracht. Kuscheljustiz lautet der Vorwurf an unsere Rechtsprechung (eine der härtesten in Europa). Dem Ermessenspielraum von Richtern und Behörden wird der Riegel geschoben. Das Gesetz sei nach dem Wortlaut auszulegen. Der Rechtsstaat ist zum Ägernis geworden, das sich gefälligst der Demokratie zu unterwerfen hat. Und wenn dann noch Richter, fremde Richter in Strassburg, die der Schweiz in 99 Prozent aller Fälle recht geben, wagen ein Urteil des Bundesgerichtes zu kassieren, gibt es kein Halten mehr für Kommentarschreiber in Online-Zeitungen. Der Volkszorn tobt, wann immer unser austariertes System Minderheiten vor der Herrschaft der Mehrheit schützt. Die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, wird gerade zur Schreckensherrschaft des Pöbels. Wem etwas nicht passt, soll gehen, so der Grundtenor. Das gilt für Ausländer und andersdenkende Schweizer. Brüssel einfach. Moskau einfach. Mekka einfach. Einfach weg.

Europa sagen ist das eine, doch den Begriff "EU" in den Mund zu nehmen das andere. Letzteres wird eigentlich noch schlimmer als der Islam empfunden. EU steht für Bürokraten, Normierer, Gewinnmaximierer, Undemokraten, Globalisierer, Gleichmacher, so das herrschende Bauchgefühl. Partei-übergreifend wagt fast niemand mehr einen EU-Beitritt zu befürworten. Zu sehr fürchtet man von rechts bis links die eigene Parteibasis. Für die Linken bedeutet die EU Turbo-Kapitalismus. Den will man abschaffen. Für Umweltschützer ist grenzenloses Wachstum gleichbedeutend mit dem Raubbau an der Natur. Hier verbündet man sich auch einmal mit den Rechten, da mehr Zuwanderung auch eine Belastung für die Umwelt darstellt. Die Rechten wiederum sehen in der Zuwanderung nur eine Schlechterstellung der Einheimischen. Der Sonderfall Schweiz wird beschworen. Hier soll alles anders sein, hier können nicht die gleichen Regeln gelten, z.B. für die Landwirtschaft, das vermeintliche Bollwerk unserer Unabhängigkeit. Wir subventionieren die Landwirtschaft mit Milliarden. Was wir Subventionen nennen, nennen andere Protektionismus. Das ist innovations- und handelshemmender Schutz einer Branche vor ausländischer Konkurrenz. Oft vergessen: Subventionen sind Steuergelder.

Die Schweiz leistet sich den Franken, koste es was es wolle. Seit Jahren leidet der Tourismus und die Export-Industrie unter der Frankenstärke. Die Nationalbank investiert Milliarden zur Schwächung des Frankens in Krisenzeiten. Der Franken ist ein einziges Verlustgeschäft. Doch die Schweiz nimmt alle Abstriche und Verluste hin wie ein Land, das sich im Belagerungszustand wähnt. Wir sind umzingelt von der EU, die wir übrigens brauchen und doch nicht wollen. Deshalb wird gejubelt, wenn eine völlig fehlgeleitete Volksbefragung zum Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU führt. Viele glauben, dass die Belagerung nun zu Ende ist. Endlich ist wieder ein Verbündeter in Sicht, endlich könnte die EU infolge einer Kettenreaktion zerbrechen. Das wird nicht geschehen. Im besten Falle wird sich die EU demokratischer gestalten. Im schlechtesten Falle wird sie sich gegenüber Sonderlingen wie der Schweiz verschliessen. Die Schweiz lebt weiterhin im geistigen Réduit und leistet sich das Verlustgeschäft «Alleingang» so lange wie möglich. Momentan sind die Bilateralen wegen der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiave gefährdet. Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt, die Personenfreizügigkeit (auch Schweizer haben die), die Teilnahme an Forschungs- und Bildungsprogrammen stehen auf dem Spiel. Die Schweizer Volkspartei (SVP) wähnt sich nach dem Brexit in der Position, die Bilateralen aufzukünden. Die Schweiz hätte dann in Europa denselben Status wie Sierra Leone oder Paraguay.

Die Kündigung der Bilateralen könnte jedoch der Boomerang sein, der uns direkt in die EU führt. Die Auswirkungen eines vertragslosen Zustandes mit der EU wären für unsere Wirtschaft und unseren Arbeitsmarkt dermassen verheerend, dass sich die Schweiz sofort für einen EU-Beitritt entscheiden würde. Erst wenn der Leidensdruck wächst, kehrt hier Vernunft ein. Davon sind wir jedoch weit entfernt. Die Zeit der geistigen Erstarrung und Umnachtung erlebt gerade ihren Höhepunkt. Blindwütiger Nationalismus macht sich breit. Die Schweiz den Schweizern! Nein, die Schweiz den Eidgenossen. Den Schweizer Pass könne sich ja jeder heute erschleichen. Und eine Fussballnationalmannschaft hätte man auch nicht mehr. Man schaue sich mal die Namen der Spieler an. So tönt es landauf, landab. Das meinen diese Eidgenossen ernst. Sie kritisieren, dass die Nationalhymne nicht gesungen wird, obwohl sie diese selber nicht singen können. Dass freilich aus verfehlten Nationalismus schnell auch Rechtsextremismus werden könnte, wird unterschätzt. In ländlichen, sozial schwächeren und bildungsfernen Schichten der Gesellschaft brodelt dieser bereits seit einiger Zeit. Dieser Tendenz gilt es mit allen Mitteln Einhalt zu gebieten.

Die Schweiz wird gerade von Emotionalität und Irrationalität regiert. Eine Demokratie, die so tickt, ist nicht in der Lage auf die Herausforderungen der Zeit zu reagieren. Wo sich sich bewegen müsste, igelt sich sich ein und verpasst den Anschluss. Probleme machen nicht halt an unseren Grenzen, mit oder ohne Stacheldraht. Die Schweiz muss teilnehmen am Projekt Europa. Sie kann beitragen zu einem demokratischeren Europa, welches für sie überlebenswichtig ist. Es führt keine Weg an Europa vorbei, früher oder später.